Guzziunser

Von Oliver Zajac

Wenn man ein altes Motorrad kauft, so wie ich ein altes Motorrad gekauft habe, das zudem eine Moto Guzzi ist, welches somit über die Jahrzehnte zwangsläufig von Guzzisten betrieben worden sein muss, die als ausserordentlich bastelfreudig gelten, und von denen einige auch noch zu aussergewöhnlich genialen Einfällen neigen, wie beispielsweise der Montage eines Seitenständers, der bei Betätigung desselben mein Motorrad exakt im 90 Grad Winkel zum Boden abstellte, es somit zitternd in Balance hielt, wobei der leiseste Lufthauch von der falschen Seite es hätte jederzeit umwerfen können, oder auch die lässige Genialität, mit dem einer meiner Vorgänger den Ölentlüftungsschlauch direkt vor dem Hinterrad baumeln liess, damit dieses jederzeit und vollumfänglich und praktischerweise gleich mit geschmiert werde, der sollte wissen, dass er nicht nur ein Motorrad sondern ein Motorrad mit einer Geschichte gekauft hat, und dass Geschichte, wie ein jeder weiss, nicht immer und ausschliesslich nur durch Genies geschrieben wird. Wenn man also ein altes Motorrad mit Geschichte kauft, so wie ich ein Motorrad mit Geschichte gekauft habe, der weiss zum Zeitpunkt des Kaufs nicht wirklich, was er bekommt, da die Zeichen dieser Geschichte, der Guzzigeschichte, sich nicht nur in den TÜV-Protokollen, Fahrzeugpapieren und Werkstattrechnungen finden oder an der Oberfläche der Guzzi, an den zerbrochenen Kühlrippen, den ausgeschlagenen Vergasern und dem verrosteten Tank abgelesen werden können, sondern sich auch bis tief in ihr Innerstes, in ihre Kolben, Zylinder und Pleuel festgeschrieben haben, weshalb es absolut notwendig ist, das Gefährt, dem man doch immer wieder sein Leben anvertrauen möchte, zum Zwecke der Prüfung seiner Zeichen nach dem Erwerb zu zerlegen.

Und weil ich noch nie ein Motorrad zerlegt habe und weil ich bis zum letzten Winter auch noch nicht einmal wusste, wie man ein Motorrad zerlegt, und mir selbst dieses Wissen kaum weiter geholfen hätte, wenn ich nicht auch noch wüsste, ob das bei der Zerlegung Vorgefundene in den zerlegten Motor gehört oder nicht, habe ich bereits letzen Sommer eine Telefonnummer gewählt, die einem Mann gehört, der sehr wohl weiss, was in eine Moto Guzzi gehört oder nicht, habe unverzüglich einen Termin vereinbart und einige Tage später eine mal wieder nicht fahrbereite Guzzi im Guzzi-Shuttle zu dem Mann mit der Telefonnummer gefahren, der die Guzzi noch im Shuttle lange schweigend musterte, der guzzischaute und guzziverstand, die Guzzi sodann vorbei an den Schrott-Teilen in seiner Vorhalle durch den sich anschliessenden langen Gang mit den dort abgestellten reparierten, gelagerten, noch nicht fertig gebauten, halb zerlegten, alten und neuen Guzzen in seine Werkstatt schob, wo ich einige Tage später mein fahrbereites Motorrad ohne Tank mit Tank wieder abholte, und er mir, nachdem er mir erklärte, was an meiner Guzzi mal wieder alles zu richten gewesen war, grinsend den Satz mit auf den Weg gab: „Und wenn sie dir ausgeht, dann machst du sie eben wieder an.“

Und wenn sie mir ausgeht, dann mach’  ich sie wieder an.

Und natürlich sollte mir die Maschine an den folgenden Tagen und Wochen sehr oft ausgehen, sie sollte mir ausgehen an roten Ampeln, an Kreuzungen und nach längeren Talfahrten und immer wieder machte ich sie wieder an und irgendwann dämmerte es mir, dass es sich bei diesem Satz, den der Mann mit der Telefonnummer so beiläufig ausgesprochen hatte, keineswegs um eine der beliebigen Platitüden mit fast tautologischem Inhalt handelte, nein, dieser Satz, offenbart von Jens Hofmann oder auch Mister Guzzi oder auch hauptamtlicher Guzzi-Schamane aus Flörsheim oder auch Geschäftsführer der Firma Dynotec, welcher für einige der abgefahrensten Guzzi-Kreationen der Neuzeit verantwortlich zeichnet, beinhaltete nichts anderes als das Credo des Guzzisten, die reine und unverfälschte Lehre des Guzzismus, das in guzzi-orthodoxer Exegese nichts anderes bedeutet, als dass diese Maschinen fahren, sie auch im hohen Alter eben nicht hochglanzpoliert im Wohnzimmer herumstehen oder schlimmer noch, auf dem Anhänger von Veteranentreffen zu Veteranentreffen gekarrt werden oder sonntags bei strahlendem Sonnenschein vor Biergärten und Eisdielen im liebevollst restaurierten und kataloggetreuen „Originalzustand“ vor sich hin parken. Eine Guzzi versieht ihren Dienst immer und überall, eine Guzzi fährt – immer – und sollte sie dies aus den unterschiedlichsten Gründen, zu denen wir gleich kommen, einmal nicht können, wird sie eben wieder angemacht. So einfach ist das nämlich.

Weil es auf Dauer aber recht ermüdend ist, die Guzzi immer und immer wieder anzumachen, haben Jens und ich einen Guzzi-Biopsie-Termin für den letzten Winter vereinbart, um den Gründen für die gelegentlichen Unpässlichkeiten des Motorrads ohne Tank mit Tank nachzuspüren. „Also gut,“ sagte er, „dann bringst du mir Motor und Getriebe im Dezember.“, woraufhin ich verdutzt nachfragte, wie er das denn meine, Motor und Getriebe im Dezember, und ob das vielleicht so zu verstehen sei, dass ich das Motorrad zuvörderst zu zerlegen habe – eine Aufgabe, die ich eigentlich ihm zugedacht hatte. „Du schaffst das schon.“, grinste er wieder.

Ich schaff’ das schon.

Eigentlich unnötig darauf hinzuweisen, dass es sich bei diesem kurzen und lapidaren Satz in Wahrheit eben nicht um einen kurzen und lapidaren Satz handelt, sondern vielmehr um ein ganz zentrales Element des Guzzismus. „Ich schaff’ das schon“ ist, wenn man so will, das Guzziunser eines jeden Guzzisten, der sich in den Kopf gesetzt hat, seine eigene, unverwechselbare Guzzi zu erschaffen. „Ich schaff’ das schon“ wird gerade während des Winterhalbjahre tausendfach nach Feierabend und an den Wochenenden in deutschen Garagen und Hobbywerkstätten gemurmelt, gebetet oder beinahe geflucht, wenn sich deutsche Guzzisten mit italienischer Genialität konfrontiert sehen, die sie nach ihrem Wünschen verbessern oder umgestalten wollen, wozu sie sich u. a. eines Gebrauchtteilemarktes bedienen, der ausweislich des Anzeigenteils des Zentralorgans des deutschen Guzzismus, der Motalia, und diverser Internetportale ungeheuer reichhaltig ist, weshalb angesichts des relativ geringen Marktanteils von Moto Guzzi, der unter der Ein-Prozent-Marke rangiert, daraus nur gefolgert werden kann, dass mindestens 50 Prozent aller jemals in Deutschland zugelassenen Guzzen jederzeit in ihre Einzelteile zerlegt sind, die auf dem Markt angeboten und sodann, nach Veräusserung und Erwerb, auf dem Postwege von Guzzist zu Guzzist geschickt werden, welche diese Teile sodann mitunter in den wildesten Kombinationen irgendwie zusammenstöpseln, bevor sie diese Kreationen im nächsten Winterhalbjahr wieder zerlegen und verkaufen, sich mit neuen alten Teilen eindecken, diese wiederum zusammenstöpseln und wieder zerlegen, weshalb wiederum aufgrund der überschaubaren Zahl der deutschen Guzzisten und der jahrzehntelangen Praxis des Teilekaufs und -verkaufs zwingend davon ausgegangen werden muss, dass ein jeder deutsche Guzzist schon einmal die Guzzi jedes anderen deutschen Guzzisten zumindest in Teilen gefahren hat. Nun könnte man ja sagen, dass die Guzzisten damit schon seit Jahrzehnten eine Frühform des carsharing, das so genannte guzzisharing, praktizierten, da die Teile als auch das dafür notwenige Kapital immer in einem geschlossenen Kreislauf zirkulierten, jedoch scheint nicht allen Guzzisten vollumfänglich klar zu sein, dass die Worte des Guzziunser „Ich schaff’ das schon“ eben nicht exakt die gleiche Bedeutung haben wie die Worte „Ich kann das auch“, zumal auch der Guzzismus unterschiedliche Strömungen und Lehrmeinungen kennt, die sich teilweise widersprechen, wie beispielsweise das sogenannte „Steuerketten-Schisma“ eindeutig belegt, wonach ein Teil der Guzzisten, die Minderheit, weiterhin auf den original Moto-Guzzi-Steuerkettenspanner schwört, da der von der Mehrheit favorisierte Stucchi-Steuerkettenspanner mindestens 2 PS Motorleistung fressen würde, was die Stucchi-Steuerkettenspanner-Anhänger natürlich bestreiten und ihrerseits den Moto-Guzzi-Steuerketten-Anhängern vorwerfen, ihr Steuerkettenspanner wäre zu ineffizient und verfälsche dadurch die Motorsteuerung, worin ihnen zwei weitere Minderheiten der Guzzisten ausdrücklich zustimmen, die ihrerseits aber jegliche Steuerketten und Steuerkettenspanner gänzlich ablehnen und vorgeblich aus Gründen der Effizienz Zahnriemen und Stirnräder verwenden, deren Verwendung wiederum von den mehr puristischen Steuerkettenfraktionen einhellig abgelehnt werden, da Stirnräder und Zahnriemen ihrer Meinung nach viel zu schnell verschleissen würden und insbesondere die Stirnräder mit ihrem lauten mechanischen Geräuschpegel eine unzumutbare Beeinträchtigung des höchsten Gutes des internationalen Guzzismus, nämlich des Guzzi-Sounds, darstellen würde, was die Stirnräder-Anhänger natürlich bestreiten und ihrerseits wiederum… usw. usf.

Eigentlich vollkommen unnötig darauf hinzuweisen, dass es ähnliche Diskussionen, divergierende Lehrmeinungen und Glaubensstreitigkeiten zu jedem nur vorstellbaren Bauteil einer Moto Guzzi gibt, seien es die Zündung oder die Lichtmaschine oder die Krümmer oder die Nockenwelle oder die Kabelbäume oder die Schwungmasse oder die Vergaserbestückung oder wasweissich, weshalb derjenige die ärmste Wurst ist, der ein altes Motorrad kauft, welches im Laufe seiner Geschichte unter Umständen unterschiedlichen Fraktionen der Guzzisten in die Hände gefallen ist, und es deshalb heillos zerbastelt sein könnte, wobei er sich noch glücklich schätzen sollte, wenn diese, seine Maschine wenigstens nicht den komplett Ahnungslosen ausgeliefert war, die noch nicht einmal davor zurückschrecken, ihren Guzzen in der heimischen Garage mittels der Bohrmaschine eine Doppelzündung in die Zylinderköpfe zu fräsen – also die Lücke zwischen dem „Ich schaff’ das schon“ und dem „Ich kann das auch“ der vorbesitzenden Guzzisten nicht allzu gross ausgefallen ist.

Motor ohne Zylinder

Motor ohne Zylinder

Um meine, zugegebenermassen recht grosse Lücke zwischen dem Guzziunser „Ich schaff’ das schon“ und dem praxisrelevanten „Ich kann das auch“ halbwegs zu schliessen, kaufte ich zum Zwecke der Zerlegung des Motorrades ohne Tank mit Tank die zwei Reparaturhandbücher, die es für die alten Guzzen gibt, und welche mir bei meinem Vorhaben mehr oder weniger gut helfen sollten, für das ich noch meinen Sohn zwangsrekrutierte und meinen Schwager mit einigen Rotweinflaschen überredete, uns ein paar Quadratmeter seiner Autowerkstatt für den Ausbau von Motor und Getriebe als auch für die winterliche Einlagerung der restlichen Teile zu überlassen. Um es kurz zu machen, brauchten wir für den Ausbau, den ich feldherrenmässig mit meinen zwei Reparaturhandbüchern in der Hand anleitete, insgesamt vier Stunden. Für geübte Guzzi-Schrauber natürlich eine lachhafte Zeit, für unsere erste Guzzi aber dennoch nicht schlecht, wenn auch die wahre Herausforderung, der Zusammenbau, noch vor uns lag.

Und so wurde ich dann wieder vorstellig mit Motor und Getriebe bei Jens, der den Motor auf eine seiner Werkbänke wuchtete und anfing denselben zu zerlegen, wobei ich ihm, so gut es eben ging, sekundierte. Jens arbeitete sich tiefer und tiefer in die Geschichte meines Motorrades, schraubte zuerst die Ventildeckel ab, entfernte die Kipphebel, deren Lagerblöcke, zog die Stösselstangen, löste die Zylindermuttern und sprach dabei unentwegt, erklärte die technischen Besonderheiten, klassifizierte die einzelnen Teile, ihre Funktionsweise, ihre Beschaffenheit, ihr Material, und schraubte schnell und sprach flink, fast so, als würde seine Finger lesen, einen Motor wie einen Text lesen, den seine Finger schon tausendmal gelesen haben, den sie schon auswendig kennen, Satz auf Satz, Schraube für Schraube, ein Lesen der Finger, das nur stockte, wenn die Lesenden auf einen Satz stiessen, der nicht in den Text, den sie so gut kannten, passte, und stockten das erste mal, als die Finger den Zylinderkopf abnahmen, und wir beide, Jens und ich, in den Zylinder schauten, und einen Zylinder erblickten, der erwartungsgemäss nicht mehr original war, da die originalen Le Mans Zylinder Stahllaufbuchsen besassen, die nicht sehr haltbar waren und deswegen schon in den 1980er Jahren nach und nach durch die neuen mit Nikasil beschichteten Zylindern getauscht wurden. Ein Fund also, der an und für sich eine erfreuliche Tatsache gewesen wäre, wenn in eben diesem mit Nikasil beschichteten Zylinder nicht auch ein Kolben zum Vorschein gekommen wäre, der in einer Le Mans nichts, aber auch rein gar nichts verloren hatte, und der der Kolben einer Moto Guzzi T3, eines gemütlichen Touren-Motorrads, war. Dieser Kolben war die eigentliche Ursache dafür, dass ich den Choke nach dem Start der Maschine noch kilometerweit stehen lassen musste, da sie mir sonst ausging, was sie auch nach dem Einklappen des Chokes immer wieder tat, da der T3-Kolben im Le Mans-Motor und dessen Peripherie die Maschine nur schwer auf Temperatur kommen liess. Da fing Jens, der wohl schon mehr als nur eine Ahnung hatte, wieder an zu grinsen, schaute mich an und frotzelte: „Oh, oh, da haben sie dich aber reingelegt.“

Zylinder mit T3-Kolben

Zylinder mit T3-Kolben

Dazu muss man wissen, dass der Motor der Le Mans I als auch der Le Mans II, wie der Sekundärliteratur zu entnehmen ist, eigentlich ein modifizierter T3-Motor war, der nur anhand von zwei Merkmalen als Le Mans-Motor zu klassifizieren ist. Einer dieser Unterschiede betrifft den Kolbenboden, die T3 hat einen flachen Kolbenboden und die Le Mans einen erhöhten Kolbendom, um eine höhere Verdichtung zu erzielen. Der zweite Unterschied findet sich am Zylinderkopf, dieser verfügt bei der Le Mans über grössere Ventile, und während ich mich in Gedanken schon damit abzufinden begann, dass der Motor auf der Werkbank eine T3-Motor war, und der angestammte Motor bereits in allen Einzelteilen in den ewigen Kreislauf des Guzziunser eingespeist worden ist, gab Jens nach Vermessung des Zylinderkopfes Entwarnung. Der Zylinderkopf hatte die richtigen Masze einer Le Mans, eine insofern glückliche Tatsache, da diese Köpfe auch im ausserordentlich gut sortierten Guzzi-Ersatzteilhandel neuwertig nicht mehr erhältlich sind. Im weiteren Fortgang der Motorlesung fanden wir dann noch eine interessante neue Variante des Steuerkettenspanners, offensichtlich Marke Eigenbau, kreativ aber dennoch fast vollkommen funktionslos, sowie eine um die Hälfte gekürzte Hohlschraube, die in der ursprünglichen, langen Form im Ölkreislauf dafür zuständig ist, das Motoröl wieder in die Ölwanne zurückzuführen, in meinem Motor ab dafür sorgte, dass das Motoröl in das Kurbelwellengehäuse gespritzt wurde, wo die rotierende Kurbelwelle es zu einem dichten Öldunst verarbeitete, welcher durch den Ölentlüftungsschlauch entsorgt wurde. Mithin ein Beleg für die Richtigkeit der Angaben des Vorbesitzers, der die Guzzi nur selten und nicht schneller als 100 Stundenkilometer gefahren haben will, denn wäre er schneller gefahren, hätte der vor dem Hinterrad baumelnde Ölentlüftungsschlauch todsicher irgendwann für ein jähes Ende der Ausfahrt gesorgt, da er bei schnellerer Fahrt verlässlich und nicht wenig Öl spuckte, weshalb ich ihn schon von Anfang an zur Seite band.

Zylinderkopf

Wir hatten demnach einen Le Mans-Motor vor uns, der laut der penibel gesammelten Werkstattrechnungen in den letzten zehn Jahren sehr wahrscheinlich nicht in einer gewerbsmässigen Werkstatt geöffnet worden war, somit also in privater Eigenregie „getunt“ wurde, oder die sinnlosen bis selbstmörderischen Eingriffe in sein Innenleben schon vor längerer Zeit über sich ergehen lassen musste, und es stellte sich die Frage, wie mit dem Motorrad weiter zu verfahren sei. Und weil es mein Motorrad ist, und weil ich schon seinen Tank entrosten, den Tank und die Schwinge abstrahlen und lackieren liess, ihm zwei neue Lafranconis anbaute, neue Vergaser spendierte, eine Spezialsitzbank ersann, und weil es ein ganz aussergewöhnliches und tapferes Motorrad ist, das selbst dann noch funktioniert, nachdem es in die Hände von Guzzisten gefallen ist, deren Lücke zwischen „Ich schaff’ das schon“ und „Ich kann das auch“ noch grösser ist als meine (was kaum vorstellbar war), und die ihre eigene Unzulänglichkeit, wenn sie denn am Motorrad zutage tritt, gerne auf die sprichwörtliche „italienische Genialität“ schieben, wenn diese doch in Wahrheit nicht selten eine direkte Folge des eigenen Basteldilettantismus ist, beschloss ich, dem kleinen Motorrad (und mir) das volle Programm zu gönnen: neue Le Mans-Kolben, zwei neue Zylinder, einen neuen Dynotec Ventiltrieb (formel-1-erprobt!), einen Satz Carillo (!!) Pleuel, einen neuen Stucchi-Steuerkettenspanner (der einzig Wahre!!!) und eine neue Dynotec Hochleistungs-Ölpumpe. Des Weiteren bestellte ich für das Motorrad ohne Tank mit Tank bei Jens eine Brennraumoptimierung, die Feinwuchtung der Kurbelwelle mit perfektem Massenausgleich sowie eine Feinwuchtung der Schwungmasse.

Einige Woche später rief Jens an und sagte, sie hätten den Motor fertig und auch das Getriebe durchgesehen, das sei ein Renngetriebe, geradverzahnt (!!!!), das könne man im ersten Gang bis 100 ausfahren, und ob ich das nicht gemerkt hätte, was ich verneinte, während ich mir überlegte, ob es tatsächlich Verrückte gibt, die versuchen ein nun 36 Jahre altes Motorrad im ersten Gang bis 100 auszufahren, und ob der Jens wohl dazugehört. Wenige Tage später holte ich Motor und Getriebe wieder ab, und wir machten uns in gleicher Besetzung daran, dass Motorrad rollfähig zusammenzubauen, um es im Guzzi-Shuttle in heimatliche Gefilde zu überführen. Für den Zusammenbau hatte ich fünf Stunden veranschlagt, ein Zeitlimit, dass wir bequem einhielten, was weniger an unseren überragenden Schrauber-Fähigkeiten als vielmehr und tatsächlich an italienischer Genialität lag. Die Ehre, das erste Mal auf den Knopf zu drücken, oblag meinem Sohn, der seine Sache sehr gut gemacht hatte. Das Motorrad sprang sofort an. Inzwischen bin ich ca. 1.700 km mit dem neuen Motor unterwegs gewesen, auch auf der Autobahn mit 150 km/h, der Motor hat beträchtlich an Leistung gewonnen, er springt willig an, wobei ich den Choke zügig einklappen kann, geht nicht mehr aus, und der Ölentlüftungsschlauch hat bisher keinen einzigen Tropfen Öl verloren. Es gibt Berufenere, die über den Leistungszuwachs des Dynotec-Tunings besser referieren können als ich, da dieser, der Leistungszuwachs, für mich eher sekundäre Bedeutung hat. Ich suchte nach Gewissheit über den Motorzustand und wollte eine Massnahme, die mir möglichst viel Fahrspass und dem Motor eine lange Lebensdauer garantiert. Und dann wollte ich natürlich noch eines: die Veredelung dessen, was mich vor fast zwei Jahren in einer Garage in Iserlohn in Mark und Bein getroffen hat, die Raffinierung des höchsten Gutes des Guzzismus, des Guzzi-Sounds, von dem mir ein älterer Herr sagte, als er mich an meiner Guzzi beim Schrauben antraf und er die Le Mans erkannte, dass er in den 1970er Jahren vier Freunde hatte, die sich jeweils so eine Maschine in Italien gekauft und dann nach Deutschland importiert hätten. Und dann wären sie zu fünft an den Nürburgring gefahren, erzählte er mit leuchtenden Augen, und er wäre auf dem Ring mit seinem Motorrad den vier Guzzen die ganze Zeit immer nur hinterher gefahren, nur um dieses Geräusch zu hören, so unglaublich sei das gewesen. Jens Hofmann ist es gelungen dieses Geräusch von damals noch zu toppen, indem seine Tuningmassnahmen die mechanischen Nebengeräusche auf ein Minimum reduzieren. Der Sound des Dynotec-Guzzi-Motors ist die reinste Lehre, das Ein- und Ausatmen eines Motors, der ein Geräusch von irgendwoher holt, wo man gar kein Geräusch mehr vermutet, da man es mehr fühlen muss als dass man es hören kann.

Ich sehe ihn noch sitzen, den Jens, auf seinem Gartenstuhl in seiner mit Schrott-Teilen dekorierten Vorhalle, während mein Motorrad ohne Tank neben ihm genüsslich die Schwimmerkammern leer schlürfte, und höre ihn grinsend aber sehr bestimmt sagen: „Ein Guzzi-Motor läuft immer!“

Und wenn nicht, dann wird er eben wieder angemacht. So einfach ist das nämlich.

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