Das perfekte Produkt

Es ist schon eine Weile her, da liess eine an und für sich belanglose Pressemeldung kurz aufhorchen. Eine New Yorker Fotokünstlerin hatte einen Hamburger nebst Pommes Frites bei einem bekannten Bulettenbratkonzern erworben – allerdings nicht um denselben zu verköstigen, sondern um seinen Verfall fotographisch zu dokumentieren. Was die Künstlerin sich dabei gedacht hat oder was daran so spannend oder künstlerisch wertvoll sein soll, einem Burger beim Verschimmeln zuzuschauen, entzieht sich meiner Kenntnis. Jedoch tat sich, so schildert es die Fotographin, während des insgesamt sechsmonatigen Beobachtungs- und Dokumentationszeitraumes dennoch Erstaunliches. Es tat sich nämlich so gut wie nichts. Der Burger stellte nach nur einem Tag die Ausdünstung von bulettentypischen Aromen ein, verlor durch Austrockung ein wenig an Volumen und verweigerte sich anschliessend beharrlich der Verrottung. Selbst die Hunde der New Yorkerin schienen keinen Gefallen daran finden zu können, dieses aus der Zeit gefallene Bulettenbrötchen der kulinarischen Verwendung anheimzustellen. Ein Burger für die Ewigkeit.

Nun gibt es wohl kaum eine „Mahlzeit“ oder ein „Lebensmittel“, das im Laufe seiner verhältnismässig kurzen Geschichte von circa 100 bis 160 Jahren – so genau weiss nämlich keiner, wann das kulinarische Kulturgut „Hamburger“ das Licht der Welt erblickte – solch vielfältigen und gnadenlos effizienten Optimierungsprozessen unterworfen wurde, wie eben der Hamburger. Der heutige Hamburger ist deshalb auch kein banales Bulettenbrötchen mehr. Der heutige Hamburger ist das perfekte Produkt. Optimiert nicht nur hinsichtlich Geschmack, Aussehen, Geruch, Konsistenz und Haptik entlang der Erkenntnisse von Marktforschung und Kundenanalyse, sondern auch effizient produziert nach den modernsten Massgaben der Massenherstellung, der Automatisierung und Hygiene; vermarktet nach dem aktuellsten Wissenstand von Psychologie, Soziologie, Demografie und Ethnologie als auch beworben in Film, Funk, Print, web 1.0 und 2.0. Das perfekte Produkt ist billig herzustellen, immer wiedererkennbar, passt sich den unterschiedlichsten sozio-kulturellen Bedingungen an, ist immer und überall gleich, da es immer und überall die gleichen Erwartungen erfüllen soll und muss, die es – das perfekte Produkt – selbst geweckt hat. Das ist ein langer Weg, den der Hamburger inzwischen zurückgelegt hat: von der Hausmannskost aus den ersten amerikanischen Imbissbuden hin zu den konzernialisierten Massenprodukten heutiger Prägung. Und jetzt verrotten die Dinger noch nicht einmal mehr.

Das Prinzip des perfekten Produktes ist ein äusserst erfolgreiches Prinzip. Und weil es so erfolgreich ist, wurde und wird dieses Prinzip kopiert, verfeinert und immer weiter entwickelt. Es bleibt nicht stehen bei den Fastfoodketten sondern expandiert nach und nach in alle Bereiche des täglichen Leben. Schon heute halten im Einzelhandel Konzerne mit einem Jahresumsatz von über 2,5 Milliarden Euro einen Marktanteil von 53 %, der nach Ansicht der Experten in den nächsten Jahren noch auf etwa 80 % anwachsen wird. Eine Entwicklung, die im Lebensmitteleinzelhandel schon vorweggenommen worden ist, dort beträgt der Marktanteil der großen acht Handelsunternehmen bereits 98 %. Das perfekte Produkt erobert unsere Innenstädte, wohnt in unseren Gewerbegebieten, gewinnt immer mehr an Boden auch im ländlichen Raum und bemächtigt sich in rasender Geschwindigkeit des Internets. Das Prinzip des perfekten Produktes macht es uns einfach: Es erleichtert uns die Orientierung, es schafft gleiche Läden, gleiche Innenstädte, gleiche Gewerbegebiete, gleiche Dörfer und ein zunehmend gleichgeschaltetes Internet. Wir sollen nicht denken, wir sollen kaufen. Wir sollen nicht auswählen, wir sollen glauben, auserwählt zu sein, um kaufen zu dürfen. Wir Auserwählten in einer perfekten Welt, in welcher uns im Gleichen immer nur dasselbe begegnet. Dieselben Geschmäcke, dieselben Bilder, dieselben Gerüche, dieselben Töne und Empfindungen, hervorgerufen durch die immer gleichen perfekten Produkte, die uns schon zu Erfahrungsprothesen geworden sind, da wir darüber hinaus immer weniger erleben oder erfahren, das nicht bereits für unser Erfahren und Erleben angepasst, optimiert und industriell vorproduziert worden ist.

Die perfekte Welt der perfekten Produkte ist ein Ort, an dem die menschlichen Bedürfnisse an die Produkte und Dienstleistungen angepasst werden und nicht umgekehrt, da der permanente Prozess der Optimierung dieser Produkte zwingend voraussetzt, dass die Erwartungshaltung ihrer Konsumenten fortwährend überwacht, gesteuert und beherrscht wird. Perfekte Produkte schaffen ihre eigenen Produkte: die perfekten Konsumenten. Wem lange genug eingetrichtert worden ist, dass Tomaten so schmecken, wie sie nun einmal in deutschen Supermärkten schmecken, erwartet nichts anderes mehr. Wer tatsächlich der immer oberflächlicheren Wahlwerbung oder der Bildzeitung glaubt, moderne Politiker müssten charismatisch, omnipotent, gutaussehend, dynamisch, „irgendwie anders“, mehr Erlöser-Model als Sachpolitiker sein und auch schon der weitestgehend sinnfreien „Yes We Can“- Marketingmasche eines Barack Obama aufgesessen ist, wird das Produkt Guttenberg nicht mehr hergeben wollen, gerade weil es so perfekt in die industriell vorgefertigte Bedarfslücke passt.

Nun kann man einwenden, Blendwerk, Marketing und Werbung habe es in der einen oder anderen Form immer schon gegeben. Und natürlich stimmt das. Was die derzeitige Entwicklung aber aussergewöhnlich bzw. aussergewöhnlich gefährlich macht, sind im Wesentlichen drei Kennzeichen.

Die Methoden der Erwartungserweckung, der Manipulation, werden aufgrund moderner Technologien immer ausgeklügelter und effizienter. Smartphones, Internet, GPS und Cloud Computing liefern interessierten Datensammlern jeden Tag zig Milliarden Informationen, welche von immer perfekteren Algorithmen ausgewertet werden. Es ist kein Geheimnis, dass beispielsweise Google die eMails, die via Google Mail versandt werden, routinemässig öffnet und nach werberelevanten Daten durchforstet. Wie auch allseits bekannt ist, dass der schwindelerregende Wert von 50 Milliarden Dollar auf den facebook geschätzt wurde, allein in der Flut der in diesem sozialen Netzwerk angehäuften Nutzerdaten begründet ist.

War das Prinzip des perfekten Produktes noch vor einigen Jahrzehnten auf wenige Branchen beschränkt, entwickelte es sich über Jahrzehnte von Wienerwald bis zu McDonalds, durchdringt es mit zunehmender Geschwindigkeit derzeit beinahe alle Wirtschaftszweige, vom kleinsten Milchbauernhof über den Handel, den Dienstleistungsbranchen, dem produzierenden Gewerbe bis hin zu den Global Playern in der Automobil- oder Finanzbranche.

Begleitet werden diese beiden ersten Kennzeichen durch das Merkmal der Konzernialisierung – global als auch national. Die Grossen fressen die Kleinen. Immer weniger und grössere Konzerne haben immer mehr Kunden.

Zusammenfassend lässt sich feststellen: Immer weniger Menschen manipulieren die Bedürfnisse von immer mehr Menschen mit immer effizienteren und besseren Methoden und gewinnen dadurch immer mehr an Macht.

Vorausschauend lässt sich befürchten, dass dieser Prozess noch an zusätzlicher Dynamik gewinnen wird und an seinem vorläufigen Ende sehr wenige Menschen über so viel Macht verfügen werden wie noch nie zuvor in der Geschichte.

Dieser Beitrag wurde unter Allgemein veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Hinterlasse eine Antwort